Wir alle kennen es, viele von uns können das Wort nicht mehr hören: Change. Auch mein Unternehmen ist mal wieder in einer Phase der Veränderung. Bei uns handelt es sich um eine wirklich große Transformation auf Konzernebene. Bei der Suche nach modernen Organisationsformen stoße ich immer wieder auf die Holakratie. Das Modell fasziniert mich. Mymuesli habe ich als erstes Beispiel in diesem Zusammenhang beschrieben. Dieser Beitrag beschreibt die Umsetzung der Holakratie beim Finanzdienstleister Hypoport.
Das Konzept der Holakratie
Entscheidungen sollen von den Mitarbeitern getroffen werden, die nahe am Kunden sind. Das hat Hypoport schon vor Jahren mit Selbstorganisation anfangen lassen. Der Leitgedanke ist dabei die Holakratie. Brian Robertson, der Begründer der Holakratie, sieht diese als „neues Betriebssystem für Organisationen“. Grundlage des Konzepts ist ein umfassendes Regelwerk, die „Verfassung“. Die klassische Unternehmenspyramide wird durch Kreise und Unterkreise ersetzt. Diese regeln die zentralen Themen der Organisation. Anstelle von Funktionen treten klar verteilte Rollen. Das stellt sicher, dass Entscheidungen da getroffen werden, wo die Menschen handeln. Weiter sieht die holakratische Meetingstruktur ein festes Procedere vor. Alle Mitglieder eines Kreises stimmen hierarchiefrei über die anstehenden Themen ab, egal ob es sich um operative Themen handelt oder die Weiterentwicklung der Unternehmensstruktur. Jeder ist damit aufgerufen, Veränderung herbeizuführen.
One family Hypoport
Das aktuelle Unternehmensleitbild bei Hypoport trägt den Namen „One family“. Die Gesamtorganisation ist stark wachsend. Waren es vor 15 Jahren knapp 100 Mitarbeiter, könnten es Ende des Jahres bereits 1800 sein. Diese teilen sich auf kleinere Tochtergesellschaften unter einem Dach auf. Heute besteht die Hypoport-Gruppe aus mehr als 15 Unternehmen. Ab einer Grenze von 200 Mitarbeitern kennt man die Menschen im Umfeld nicht mehr. Wenn es gilt, Entscheidungen zu treffen, spielt die Kommunikation eine bedeutende Rolle. Reden ist in diesem Fall nicht Silber, sondern Gold. Werden die Organisationen zu groß, spaltet Hypoport sie aus diesem Grunde auf oder gründet rechtzeitig neue.
Holakratische Meetings
Björn Schneider, Leiter People & Organisation, probierte den Einsatz im eigenen Bereich aus. Holakratie sieht zwei Arten von Meetings vor: ein operatives, in dem inhaltliche Dinge zur Sprache kommen, Tactical genannt, und ein Meeting, in dem die Arbeitsstrukturen im Mittelpunkt stehen, Governance genannt. Feste Regeln verhindern, dass man sich in diesen Meetings verzettelt. Der Ablauf ist genau festgelegt. Im Tactical muss beispielsweise der Facilitator, so etwas wie ein Moderator, an den richtigen Stellen jedes anstehende Projekt vorlesen und nach Updates fragen. Der Projektinhaber muss dann antworten „keine Updates“ oder mitteilen, was sich seit dem letzten Meeting geändert hat. Verständnisfragen sind erlaubt, Diskussionen nicht. Die gleiche Strenge findet sich bei den Governance-Meetings. Bei der Vorstellung eines Vorschlages sind Fragen erlaubt, soweit sie die anderen nicht beeinflussen. Einwände werden ohne Diskussion dargelegt und nach einem festen Vorgehen getestet. Ziel ist es dabei, Gegenargumente zu integrieren und den eingereichten Vorschlag zu verbessern (integrative Entscheidungsfindung).
Ausrollen von oben nach unten
Stephan Gawarecki ist Mitglied des Vorstandes und verantwortlich für die Geschäftsbereiche Privatkunden und Versicherungsplattform. Er ist einer der Vorreiter der Holakratie bei Hypoport. Der 50-Jährige tritt ohne Anzug und Krawatte auf und erinnert sich an seine ersten Schritte in der neuen Arbeitsweise: Für die Selbstorganisation suchte er nach einer nichthierarchischen Vorgehensweise im Entscheidungsprozess – dabei stieß er auf die integrative Entscheidungsfindung, die auch die Holakratie kennt. Sehr schnell merkte er, dass er nicht in jedem Meeting in der gleichen Rolle ist. So war er nicht nur Hypoport-Vorstand, sondern auch Geschäftsführer verschiedener Tochterunternehmen. Weiter war häufiger inhaltlicher Input gefordert. In der klassischen Hierarchie sind diese Rollen und der Mensch dahinter überhaupt nicht trennbar. Im holakratischen Denken ist dagegen jeder Aufgabe einer Rolle zugeordnet. Jedes Thema hat seinen Kreis, in der Holakratie heißt es: Jeder Kreis hat einen Purpose. Dieser leitet sich vom Gesamtzweck des Unternehmens ab: ein Unternehmensnetzwerk schaffen, das Immobilien-, Kredit- und Versicherungsmärkte mit Technologie und Infrastruktur unterstützt. Hypoport hat beispielsweise den General Company Circle, kurz GCC, der alle Prozessthemen lenkt. Ein Unterkreis des GCC ist „Organisation, Mensch und Gemeinschaft“, kurz OMG. Er beschäftigt sich mit der Zukunft von Führung in der Organisation und zwischenmenschlichen Themen. Es herrscht also auch hier noch Hierarchie – diese ist aber in Kreisen organisiert. Die Hierarchie findet in beide Richtungen statt: Ein sogenannter „Lead-Link“ wirkt nach innen. Er vertritt die die Interessen eines Kreises in Subkreisen. Jeder Kreis verfügt außerdem über einen „Rep-Link“, einen Repräsentanten für den nächsthöheren Kreis, an den sich jeder Mitarbeiter wenden kann, um Dinge „nach oben“ zu tragen.
Neue Verteilung von Führung
Ende 2016 ließ sich das Management auf die Holakratie-Verfassung ein. Dann wurde ausgerollt – von oben nach unten. Das ist für die Einführung von Holakratie zwingend. Die Verantwortlichen in der Führungsetage müssen die nötigen Freiräume gewähren. Ganz wichtig ist auch die Vorbildfunktion, deren Wille und die Fähigkeit, Macht abgeben zu können. Führung wird dabei nicht weniger, sie wird aber neu verteilt. Der neuen Ordnung müssen sich beide Seiten annähern – Führungskräfte und Mitarbeiter. So lautet eines der Hypoport-Prinzipien: „Wir führen gemeinsam“