„Ich kann mein Potenzial auf der Arbeit nicht ausschöpfen!“ Dieser Satz kommt euch sicherlich bekannt vor. In Zeiten der Effizienzsteigerungen und des globalen Wettbewerbs gilt es mehr denn je Begabung und Potenzial der Arbeitskräfte zu fördern und abzurufen. Dabei ist es zu allererst einmal von herausragender Bedeutung, Begabung und Potenzial schon im Kindesalter zu verstehen, es mittels unterschiedlicher Informationsquellen breit zu identifizieren und entsprechend zu fördern.
Begabung und Potenzial – wozu fördern?
Begabung und Potenzial zu fördern gilt in unserer Gesellschaft als weit verbreiteter Konsens. Dasselbe gilt für die Annahme, dass dies in unzureichendem Maße geschehe. Spinnt man den Gedanken weiter muss man zum Schluss kommen, dass sich in unserem Bildungssystem etwas ändern muss. Aber darüber hinaus ist festzustellen, dass das Problem ein gesamtgesellschaftliches ist und somit eine Vielzahl von Ansatzpunkten bietet, um diese Herausforderung zu meistern. Der Wunsch Begabung und Potenziale bestmöglich in Leistung und Erfolg umzusetzen, ist durch gesellschaftliche Wertvorstellungen geprägt. Diese lassen sich entlang zweier Argumentationsstränge darstellen.
Leistung und Erfolg – die ökonomische und humanistische Sicht
Die ökonomische Sicht verdichtet Leistung und Erfolg zu wirtschaftlicher Prosperität. Je höher die Bildung einer Person und ihr formaler Bildungserfolg wie Schulabschlüsse oder akademische Grade, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer Arbeitslosigkeit. Auch das Einkommen steigt mit der Bildung. Jedes Jahr Investition in Bildung bringt in Deutschland fünf Prozent mehr Einkommen über die gesamte Lebensspanne einer Person gerechnet. In anderen OECD Ländern sind die Prozentzahl noch deutlich höher.
Die Möglichkeiten zu entfalten, die in einem stecken, um eine höhere Lebenszufriedenheit zu erleben, zeigt die humanistische Perspektive. Die Bedürfnispyramide nach Maslow verortet die Selbstverwirklichung weit oben. Die Motivationstheorie brachte das verwandte Konstrukt der Sinnhaftigkeit von Arbeit hervor. Diese wurde schon sehr früh als wichtiger Faktor für die Qualität des Arbeitslebens identifiziert.
Sinnhaftigkeit – Quelle des Wohlbefindens
Diejenigen von uns, die die eigene Arbeit als sinnvoll erleben, sind zufriedener. Bei der Kontrolle der Arbeitszufriedenheit zeigt sich ein negativer Zusammenhang zwischen Sinnerleben und Depression. Dieser Zusammenhang wurde bereits in den ersten empirischen Studien zu den Konsequenzen von Langzeitarbeitslosigkeit deutlich. Der Verlust der Arbeit führt demnach zu Passivität, Hoffnungslosigkeit und Resignation. Diese weichen Faktoren nehmen wiederum über geringere Fehlzeiten und Gesundheitsausgaben Einfluss auf die ökonomischen Interessen des Staates.
Potenziale und Begabungen
Begabung lässt sich im Sinne eines (größtenteils genetisch determinierten) Potenzials eines Menschen zur Erzielung hoher Leistungen in einem Bereich definieren. Demgegenüber sind Potenziale die realisierte Leistung. Begabung ist also speziell das Potenzial zur Leistung – der Potentialbegriff geht über den Begabtenbegriff hinaus.
Leistung entspricht dem umgesetzten Potenzial; im Gegensatz zu diesem lässt sich Leistung beobachten, etwa in Form von Schulnoten, kreativen Produkten, Ergebnissen bei sportlichen Wettkämpfen, Produktivitätszahlen und vielem mehr. Während Leistung neutral ist und hoch oder niedrig ausfallen kann, ist Erfolg klar positiv konnotiert. Hier kommen außerdem stärker subjektive Maßstäbe zum Tragen. Begabungen und Leistungen können sich in verschiedenen Bereichen zeigen: im intellektuellen, kreativen, sportlichen oder sozialen. Die Aktualisierung der Begabung wird durch „Katalysatoren“ unterstützt, begabungsstützenden Eigenschaften, die in der Person selbst liegen (Motivation, geringe Leistungsängstlichkeit oder Gewissenhaftigkeit) oder in der Umwelt (z.B. Lerngelegenheiten, elterliches Engagement oder Klassenklima).
Leistungen sind keineswegs von Anfang an (möglicherweise genetisch) festgelegt. Erklären wir das am Beispiel Intelligenz: Lewis Madison Termans, Initiator der ersten systematischen Hochbegabtenstudie, behauptete, dass sich Begabung auch gegen Widerstände durchsetze. Das gilt heute als widerlegt. Forschungen zu erwartungswiedrigen Minderleistungen (underachievement) zeigen Abweichungen von der Norm, etwa wenn ein hochintelligenter Schüler eher mittelmäßige Noten schreibt. In einer leistungsorientierten Gesellschaft leiden Menschen, die hinter den Erwartungen zurückbleiben an diesem Zustand. Das zeigt sich in Form negativer Einstellung zur Schule und schlechterer psychosozialer Anpassung.
Verlust von Potenzial
Offensichtlich geht auf dem Bildungsweg einiges an Potenzial verloren. Brohm-Badry, Peifer und Greve bilden hierzu folgende Thesen:
These 1: Unzureichendes Verständnis von Potenzial. Unser Begriff von Potenzial und Begabung entspringt den Normen einer Gesellschaft, die so nicht mehr existiert. Nehmen wir das Beispiel der Intelligenz. Die Fähigkeit zum logischen Denken gilt in den westlichen Kulturen und da insbesondere in den angloamerikanisch geprägten Ländern als zentrales Element dessen, was Leistungspotenzial ausmacht. Wird Intelligenz als Begabung anerkannt, bestärkt das ein System, in dem anhand der Intelligenz Erfolg vorhersagbar ist. Menschen, die solche logisch-abstrakten Aufgaben gut lösen können, werten Menschen als „intelligent“. Wenn man in anderen Ländern und Kulturen fragt, sieht das ganz anders aus. In Taiwan identifizieren Yang und Sternberg neben einer hohen allgemeinen Intelligenz inter- und intrapersonale Fähigkeiten sowie das Wissen, wann man seine Intelligenz zeigen sollte und wann besser nicht. Laien erachten diese Faktoren als intelligenzrelevant. Aber auch in westlichen Ländern ist ein intelligenter Mensch u.U. mehr als nur jemand, der „gut“ denken kann: Eine ältere Studie aus den USA macht verbale Fähigkeiten, praktische Problemlösefähigkeiten und soziale Fähigkeiten auch als Kompetenzen eines intelligenten Menschen aus. In einer umfassenden Definition ist „Intelligenz die den innerhalb einer bestimmten Kultur Erfolgreichen gemeinsamen Fähigkeit“ (Hofstätter). Für Deutschland als kulturell vielfältiges Einwanderungsland scheint es sinnvoll, den Begabungsbegriff zu erweitern und zu erkunden, was die hier lebenden Kulturen und Gruppen überhaupt als „Potenzial“ ansehen – im nächsten Schritt sind Potenziale zu identifizieren um diese dann zu fördern.
These 2: Durch unzureichendes Verständnis wird Potenzial unzureichend identifiziert. Wir nutzen nicht alle verfügbaren Informationsquellen. Und darüber hinaus nutzen wir die Quellen, die wir nutzen, nicht optimal.
These 3: Mit unzureichendem Verständnis und Identifikation von Potenzialen ist nur eine unzureichende Entfaltung möglich. Die Maßnahmen zur Förderung von Potenzialen orientieren sich an den Bedürfnissen derer, die als begabt erkannt werden. Nur was als wertvoll und erstrebenswert gilt wird auch gefördert. Im Endeffekt geht es bei Entfaltung und Förderung von Potenzialen um die optimale Passung zwischen Individuum und Lernumwelt. Unterschiedliche kulturelle Normen in Elternhaus und Bildungsinstitutionen erzeugen Stress und negative Emotionen, was die Leistungsentwicklung hemmt und Dropout fördert.
Für mehr Verständnis, Erkenntnis und Unterstützung von Potenzial – ein integrativer Ansatz
Ziel ist es, Erfolg vorherzusagen und den Prozess der Vorhersage zu optimieren. Dabei lassen sich unterschiedliche Perspektiven im Hinblick auf ihre individuelle Entwicklungsförderlichkeit unterscheiden:
Die objektive Außenperspektive: Tests. Verschiedene Arten der Begabung (Intelligenz, Vorwissen) und begabungsstützende Faktoren lassen sich mit Hilfe standardisierter Test ermitteln. Die Güte der Verfahren sind im Hinblick auf die Fähigkeit zu beurteilen, bestimmte Merkmale zu messen, anhand derer verschiedene Kriterien bestimmt werden.
Die subjektive Außensicht: Andere. Lehrkräfte, Eltern oder Mitschüler/innen oder ganz andere Personen – sie alle haben eine ganz eigene Perspektive auf das Individuum. Alle diese Sichtweisen tragen zum Verständnis als Ganzes bei. Dort wo Tests an ihre Grenzen stoßen, können dies Perspektiven zur Vervollständigung des Bildes beitragen.
Die subjektive Innensicht: Selbst. Das Denken einer Person über sich selbst und die Integration des Potenzials in die eigene Identität kann bei der Vorhersage und der Entwicklung von Potenzial beitragen.
Der Kontext. Die drei überlappenden Perspektiven sind in einen soziokulturell-historischen Kontext eingebunden. Dieser legt die Bedeutung relevanter Konstrukte fest, wie Potenzial und Begabung, Leistung und Erfolg konstruiert wird. Nicht vorhandene Passung zwischen Individuum und Kontext kann dazu führen, dass Potenzial missverstanden, nicht identifiziert und nicht gefördert wird.
Erfolg: mehr als Bildung, Status und Reichtum. In Abhängigkeit von den angeführten Gründen der Förderung, lässt sich auch der Begriff Erfolg enger oder weiter fassen: als Bildungs- oder Berufserfolg (aus ökonomischer Sicht), als „glückliches Leben“ (aus humanistischer Sicht), „gemessen“ in Lebenszufriedenheit, positivem Affekt, häufigen Flow-Erleben oder der erlebten Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens. In der schulischen Praxis kommt den Lehrkräften eine besondere Rolle zu. Eine Verbesserung der diagnostischen Ausbildung ist unabdingbar. Dabei sollte diese nicht nur die Vermittlung von Wissen der Nützlichkeit verschiedener Informationsquellen in unterschiedlichen Kulturen und Bevölkerungsgruppen beinhalten, sondern verstärkt auch die Anregung zu einer kritischen Reflexion der eigenen Rolle als Diagnostiker. Die Wertschätzung aller Perspektiven macht die Trennung von Wahrnehmung und Bewertung unabdingbar. Andere Urteile stellen keine Bedrohung der eigenen Deutungshoheit dar, sondern sind vielmehr als potenzial-nützliche Informationen wahrzunehmen, um die eigene Entwicklungsmöglichkeiten selbstkritisch zu hinterfragen. Die subjektive Sicht von Kindern nicht zu belächeln braucht Offenheit und persönliche Reife. Ist Eltern klar, dass der Lehrer die positive Entwicklung des Kindes unterstützen will, gibt das Raum für Solidarität. Vielleicht gibt es in Zukunft ja die Möglichkeit, Lehrer und Schüler so einander zuzuordnen, dass jeder Beteiligte das jeweils Beste des anderen zum Vorschein bringt. Jedes Kind sollte in der Schule mindestens eine Person haben, die es bedingungslos annimmt und die an es glaubt.
Inspiration zu diesem Beitrag:
Brohm-Badry, Peifer, Greve: Positive psychologische Forschung im deutschsprachigen Raum