Für viele von uns noch selbstverständlich. Das Anschreiben ist Teil einer vollständigen Bewerbung. Die Bahn hat viel Aufsehen erregt. Sie verzichtet für Azubis und Studenten darauf. Da lohnt es sich, mal näher hinzuschauen.
Ziel: Einfacher und schneller
Was für ein Paukenschlag. Die Deutsche Bahn verzichtet im Sommer 2018 auf das Anschreiben bei der Bewerbung von Azubis. Der Bewerbungsprozess soll damit so einfach wie möglich werden.
Es scheint sich dann doch mehr und mehr herumzusprechen, dass komplizierte Bewerbungsprozesse zu einem No-go für Talente geworden sind. Anschreiben – Lebenslauf – Zeugnisse: da kann schon ordentlich Zeit für draufgehen. Auch den Arbeitgebern sollte schon lange klar sein: Bewerber wünschen sich einen unkomplizierten Bewerbungsprozess. Wird´s allerdings zu kompliziert, droht die Strafe der Nichtbeachtung durch potentielle Kandidaten. Jede/r Dritte hat sich schon einmal den Bewerbungsprozess verworfen, weil ein Online-Bewerbungsformular beziehungsweise das Karrierportal des Arbeitgebers hätte nutzen können. Zu diesem Schluss kam eine Stepstone-Studie 2018.
Anschreiben bei Kandidaten unbeliebt
Das sagt zumindest die Candidate Journey Studie 2017 von Peter M. Wald und Christoph Athanas. Demnach würde jeder Zweite unter 30 Jahren gerne auf das Anschreiben verzichten. Ist das Anschreiben tatsächlich ein Abklatsch aus alten Zeiten? Interessierte Kandidaten legten darin ihre Beweggründe (Motive) für die Bewerbung dar. Raum für durchaus nützliche Informationen für den Arbeitgeber, um Motivation und langfristigen Erfolg der Bewerbenden schon vor dem ersten Kennenlernen abschätzen zu können.
Alternativen zum Anschreiben
Sicherlich gibt es interessante Alternativen zum Anschreiben:
Konkrete Fragen stellen:
wenige, aber dafür sehr gezielte Fragen (auch online möglich) schaffen konkreten Bezug zur vakanten Stelle. Hier könnten bspw. Fragen zu erfolgreichen Projekten in Bezug zur ausgeschriebenen Stelle, Führungserfahrung oder Haltung zu einem bestimmten (Fach-)Thema eine Rolle spielen.
Telefoninterview:
Die Kontaktaufnahme per Telefon kommt einfach und eher unspektakulär daher. Sie bietet die Möglichkeit, erste erfolgsrelevante Themen und die Wechselmotivation zu besprechen. Richtig gut!
Freitext:
Der Freitext verschafft die Möglichkeit, freiwillig mehr über sich und seine Motive zu erläutern und sich somit von anderen Kandidaten „abzusetzen“. Allerdings erscheint es wichtig, dass klar zum Ausdruck kommt, dass das Ausfüllen auf freiwilliger Basis erfolgt und keine Nachteile zu befürchten sind, sollte das Feld nicht ausgefüllt werden.
Weg mit dem Anschreiben – Kaminkarrieren gesucht!
Die Forderung, das Anschreiben alternativlos für alle Positionen zu fordern, scheint noch tief in der Karriere-Denke von gestern zu stecken: Einer Sicht auf Lebenslaufkarrieren, der tiefrote Faden im geradlinigen tabellarischen Werdegang eines Arbeitnehmers. Unternehmen unterliegen dem Irrglauben, Stellen kosteneffizient automatisiert mit dem „passenden“ Kandidat zu besetzen. Hier erfolgt ein Abgleich der Lebensläufe auf genau die Keywords, die sich in der überwiegenden Zahl in Stellenbeschreibungen wieder finden; sehr uniform und leblos wirkend. Blitzschnell erfolgt hier das matching, kurzfristig und sehr eindimensional. Eine sehr kurzfristig ausgerichtete Handlungsweise im komplexen Arbeitsmarkt. In vielen Bereichen ist es bereits und wird zunehmend schwerer passende (Fachkräfte) zu finden.
Und der Rest?
Was ist mit den vielen hochqualifizierten Menschen, teilweise stark ausgerichteten Kandidaten, die einen Quereinstieg suchen und sich beruflich umorientieren möchten? Was ist mit den Menschen, die einen Gang zurückschalten wollen, um wieder mehr Freude und Motivation im Beruf zu finden? Bunten und ungeraden Lebenslaufs nehmen immer mehr zu – sie sind Auswirkung der gesellschaftlichen Öffnung sowie Freiheit bei der Gestaltung des eigenen Berufs- und Lebensweges. Zur gleichen Zeit preisen Arbeitgeber innovative Karrieremodelle, familiengerechtes job-sharing und agiles Arbeiten zwischen temporären Führungs-, Projekt- und Fachkarrieren. Wie passt das mit der Tatsache zusammen, dass am Ende all jene Bewerber keine Chance haben, deren Lebenslauf „aus der Reihe fällt“. Wenn der Arbeitgeber ein echtes Interesse, neue Karrieremodelle zu leben und für Jobwechsler erlebbar zu machen. Die Bewerber sollten in dieser frühen Phase des Auswahlprozesses nicht auf ihre Fach- und Erfahrungswissen sowie Zeugnisse und Noten aus der Vergangenheit reduziert werden.
Schöne neue Arbeitswelt
Neue Arbeitswelten zeichnen sich durch Agilität, Flexibilität, Kooperation, Kreativität & Mindset aus. Spezialistentum und tiefe Fachkenntnissee spielen eine immer kleinere Rolle. Die Persönlichkeit der Mitarbeitenden rückt in den Fokus: seine individuellen Talente, Erfahrungen, Kompetenzen und Stärken.
Der Lebenslauf reicht nicht aus
Die zuvor genannten Aspekte sind in den heute verbreiteten Lebenslaufformaten nicht zu sehen. Ergo führt eine Abschaffung des Anschreibens dazu, dass diese Punkte für die Auswahlentscheidung ignoriert werden. Die Recruitingkosten verlagern sich von der Erstauswahl auf Gespräche, die man sich sparen kann. Weiter besteht die Gefahr, die vielen Talente mit „offensichtlich“ unpassenden Lebensläufen schlicht und ergreifend zu übersehen.
Potentiale nicht gehoben – in Zeiten des Fachkräftemangels
Gerade unbekannte mittelständische Unternehmen oder Arbeitgeber in unattraktiven Regionen müssen alle verfügbaren Potentiale erkennen und heben. Immer und immer wieder betonen Arbeitgeber, wie schlimm es doch um den Bewerbermarkt bestellt ist, es dauert nicht lange, und das Jammern beschreibt die mangelnde Qualität und Quantität von Bewerbern. Genau diese Unternehmen werden sich im „war for talents“ keinen Gefallen tun, der Aufwand für das Recruiting wird steigen, Fehleinstellungen werden vorgenommen. Auch für Bewerber ist das Anschreiben die Chance, berufliche Veränderungssituationen außerhalb der „Lebenslaufform“ zu beschreiben. Sie werden dann glücklich sein, nicht nur auf den Lebenslauf und alte Zeugnisse reduziert zu werden.
Vielfalt ist zukunftsweisend
Sicherlich: Das Anschreiben in der guten alten Ratgeber-Form ist heute nicht mehr zeitgemäß. Phrasendreschen bis zum Abwinken. Viel Geschwafel und wenig Substanz. Und natürlich: verbindlich und zuverlässig – das bin ich. Aha! Dann wissen wir alle Bescheid! – Das sind keine zukunftsweisenden Anschreiben!
Aber geht nicht gibt’s nicht! Auch wenn Praktiker mittlerweile passé ist, der Spruch ist gültig wie nie. Mehr Klarheit im Anschreiben und ein klares persönliches Profil mit Ecken und Kanten: Klarheit und Authenzität führt zu höheren Einladungsquoten. In Alternativen und Vielfalt denken ist Trumpf. Reduktion und Vereinfachung ist nicht alles. Das Anschreiben kann großen Mehrwert bieten. Aber Vielfalt der Bewerbung heißt auch: Bewerbungsvideos für diejenigen unter uns, die gerne vor der Kamera stehe, eine eigene Homepage für die Programmierer und ein schöner Text für die Schreiberlinge. Mehr Kreativität und Individualität schafft Raum, in dem Menschen ihre persönlichen Stärken einbringen und sie für Arbeitgeber richtig greifbar machen können. Vielfalt und Kreativität: das ist es, was uns Menschen von Kollege Roboter unterscheidet.