Es wird zunehmend schwieriger für Führungskräfte, die Leistung der eigenen Mitarbeiter angemessen und so objektiv wie möglich zu bewerten. Das 360-Grad-Feedback als Teil einer institutionalisierten, einmal jährlich stattfindenden Beurteilung ist heutzutage nicht mehr als die Alibi-Variante einer nicht mehr adäquaten Herangehensweise.
Beurteilung des Vorgesetzten
Die Funktion der Vorgesetzten beschränkt sich im Beurteilungsgespräch darauf, die Einschätzung anderer wiederzugeben und dem eigenen Mitarbeiter eine Beurteilung zu vermitteln, die zwar auf der Meinung anderer beruht, aber trotzdem von der eigenen Einschätzung geprägt ist. Diese Einschätzung Dritter kann nur bedingt qualifiziert diskutiert werden. Solche Konstellationen begünstigen Mitarbeiter, die es schaffen, sich nach oben in einem guten Licht zu präsentieren, selbst wenn sie tatsächlich keine guten Leistungen zeigen.
Beurteilung der Kollegen
Die, mit denen ich tagtäglich zusammenarbeite, können meine Leistungen am besten einschätzen. Meine Kollegen können mir angemessenes Feedback zu meinen Stärken geben. Sie können mir auch wertvolle Rückmeldung geben, in welchen Bereichen ich mich weiterentwickeln sollte. Die gegenseitige offene und kritische Bewertung durch Kollegen ist nicht üblich – es ist aufwendig, erfordert Überwindung und viele von uns delegieren diese gerne in die Verantwortung des Vorgesetzten. Das führt so weit, dass wir uns über die „Low-Performer“ unter den Kollegen und uns im gleichem Atemzug über den Chef aufregen, der das Problem nicht angeht und dem Kollegen nicht mal richtig die Meinung geigt. Viel zu selten machen wir uns klar, dies selbst gegenüber den Kollegen zu thematisieren – im Grunde ist der Kollege ja ganz nett, ab und an mal ein gemeinsames Feierabend-Bier trinken ist ja nicht das Schlechteste, außerdem wollen wir uns das Verhältnis zueinander ja nicht belasten. Das ist doch ganz klare Aufgabe des Chefs. Wie gehen wir aber jetzt mit der Situation um, wenn der Chef die schlechte Leistung gar nicht sehen kann?
Es existieren bereits genug Verfahren, die eine Erleichterung der Beurteilung durch Kollegen leisten. So verpflichtet sich das gesamte Team auf ein gemeinsames Ziel und wird an dessen Erreichung gemessen. Jedes einzelne Teammitglied berichtet im täglichen Stand-Up-Meeting über den eigenen Fortschritt. Das macht gute Leistungen Einzelner im Team sichtbar. Das Team benötigt für Lob und Anerkennung keine Vorgesetzten.
Der Druck aus dem Team
Erbringe ich keine guten Leistungen, so spüre ich den steigenden Druck des Teams. Dieses wird an seiner Gesamtleistung gemessen. Es muss die Minderleistung Einzelner somit kompensieren. Es finden regelmäßige Retrospektiven statt, die Raum zur Problembehandlung bieten. Die täglichen Stand-Ups regen ebenso das Zweiergespräch an. Allerdings erscheint die Frage nach wie vor schwierig, wie das Team auf schlechte Leistungen reagieren soll, für den Fall, dass die direkte Ansprache und Aussprache zu keinem befriedigenden Ergebnis führt. Es existieren keine klaren Regeln. Ein Scrum-Team verfügt selten über die Befugnis, gute Leistung mit Beförderung, Lohnerhöhungen oder Ähnlichem anzuerkennen. Es erscheint somit weiterhin notwendig, dass die Funktion der Vorgesetzten bleibt. Beurteilungen sollen sicherstellen, dass gute als auch schlechte Leistungen mit Konsequenzen bedacht werden und der Einzelne danach strebt, sich stetig und kontinuierlich zu verbessern. Es erfolgt die explizite Anerkennung guter Leistungen, um den Beitrag des Einzelnen wertzuschätzen, Dankbarkeit zu zeigen und Vorbilder sichtbar zu machen, an denen sich andere orientieren und die sie um Rat fragen können. Gute Leistungen sollten mit der Möglichkeit guter Entwicklungsmöglichkeiten verbunden sein. Genauso muss auch schlechte Leistung Konsequenzen haben.
Für alle Beteiligten gibt es nichts Demotivierenderes als schlechte Leistungen – und niemanden interessiert´s.
Beurteilungen und Konsequenzen
Mögliche Konsequenzen müssen gegeben sein – bis hin zum Teamausschluss – das ist notwendig für die Selbstmotivation. Wir alle brauchen ab und an mal einen Anstupser von außen um gute Leistungen zu erbringen.
Es erscheint von großer Bedeutung Wege zu finden und zu leben, wie sich Kollegen gegenseitig beurteilen und positive und negative Konsequenzen aussprechen. In erster Linie ist es von Bedeutung, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, wer die Verantwortung trägt und welche Mittel zur Verfügung stehen. Zu diesem Punkt existieren aktuell kaum klare und allgemein gültige Regeln. Nachfolgend schauen wir uns einige Ansätze an:
- Regelmäßig beantworten die Mitarbeiter die Frage, mit wem Sie unbedingt wieder zusammenarbeiten möchten oder wer Ansprechpartner bei Fragen ist oder Unterstützung bietet. Kollegen, die hier häufiger genannt werden erfahren eine deutliche Wertschätzung. Für die Kollegen, deren Namen nicht genannt werden, ein klares Signal, sich mehr zu engagieren.
- Ein einfaches System dient der Unterstützung und Veranlassung, den Kollegen positives und kritisches Feedback zu geben. Positives Feedback wird in Form von Kärtchen an eine Wand gehängt, in Form von symbolischen Figuren am Arbeitsplatz aufgestellt oder mit einer persönlichen Danksagung auf einer persönlichen Plattform formuliert, auf die alle Zugriff haben. Kritisches Feedback sollte im Vier-Augen-Gespräch, zeitnah und mündlich erfolgen. Falls das schwierig ist oder noch nicht gelebt wird, kann auch eine anonyme und für alle Beteiligten einsehbare Plattform zur Übermittlung von kritischem Feedback eingesetzt werden. Es werden mit kritischem Feedback keine negativen Konsequenzen angedroht, es wird lediglich das Signal gesetzt, dass jemand aus dem Team mit der Leistung nicht zufrieden ist und konkrete Erwartungen übermittelt, was der Empfänger ändern soll.
- Die Mitarbeiter sollen sich überlegen, welche Maßnahmen die anderen Kollegen ergreifen sollen, um die eigene Leistung zu steigern. Dieses Feedback bezieht sich auf Stärken als auch auf die Beschäftigung mit relevanten Schwächen. Das persönliche Gespräch oder ein schriftliche Befragung auf Papier dienen dem Austausch. Aber auch per E-Mail oder auf einer digitalen Plattform ist der Austausch möglich. Das Verfahren kann regelmäßig von außen angestoßen werden oder ein stetiger Prozess sein, wie es durch die beliebten Fitnessapplikationen bereits bekannt ist: Jeder Mitarbeiter gibt an, wie häufig er Feedback geben oder erhalten möchte, und wird automatisch zum Feedback geben oder einholen aufgefordert. Er setzt sich damit individuelle Ziele. Lediglich der Anlass zum Feedback-Austausch wird organisiert.
Alle Prozesse haben die Gemeinsamkeit, dass sie in sich abgeschlossen sind. Sie sind keine Vorstufe des Gesprächs mit dem Vorgesetzten. Das ganze Team wird in die Verantwortung genommen: für die Leistung des Teams und die Leistung des Einzelnen.
Gelingt es nicht, einen leistungsschwachen Mitarbeiter in einen akzeptablen Bereich zu führen, helfen also weder persönliche Gespräche, anonymes Feedback, fehlende Anerkennung oder klar formulierte Kritik, ist es von Bedeutung, dass dem Team ein transparenter Prozess zur Verfügung steht. So kann das Team ein Mitglied ausschließen. Das muss nicht zwangsläufig eine Kündigung sein. Die Möglichkeit einer finalen Trennung ist allerdings wichtig. Allerdings sind Vorkehrungen zu treffen, damit der Prozess nicht als Mobbing-Instrument missbraucht werden kann. Fingerspitzengefühl und eine gute Betreuung des Prozesses und aller Beteiligten sind fundamental. Die Erfahrung zeigt, dass das Team nur in Extremfällen eine Kündigung ausspricht – vermutlich später, als das in vielen Fällen der Vorgesetzte tut. Das Team sollte auch Möglichkeiten bekommen, Entscheidungen über Konsequenzen für gute Leistungen zu treffen, z.B. durch Beförderung oder Anpassung von Löhnen.
Inspiration zu diesem Beitrag: Hermann Arnold: Wir sind Chef